Der Umgang mit Perspektivierung in Kurzgeschichten
Das Promotionsprojekt untersucht, wie SchülerInnen der Klassenstufe 9/10 und LehrerInnen perspektivische Besonderheiten in Kurzgeschichten verarbeiten, die konstitutiv für Kohärenzetablierung und literarisches Verstehen sind.
Jeder Text stellt einen referentiellen Sachverhalt immer perspektiviert dar. Anders als bei der Rezeption eines Sachtextes darf der Leser eines Prosatextes jedoch nicht davon ausgehen, dass der Autor seinen Informationsstand mitteilt, sondern er muss damit rechnen, dass ein Erzähler spricht, der die Informationsvergabe gezielt steuert, Perspektivierung also strategisch einsetzt. Die Beachtung perspektivischer Besonderheiten eines literarischen Textes wird somit zwingend notwendig für den Prozess der Bedeutungskonstruktion.
Die Dissertation verfolgt die Frage, wie SchülerInnen neunter und zehnter Klassen und LehrerInnen mit perspektivischen Besonderheiten in Kurzgeschichten umgehen. Kurzgeschichten der Gegenwart sind ein prominenter Gegenstand des Literaturunterrichts. Sie verfügen oft über perspektivische Besonderheiten, deren Beachtung konstitutiv für Kohärenzetablierung und literarisches Verstehen ist. Den Lesern dieser Texte sollen beispielsweise durch konkurrierende Informationen oder Leerstellen Deutungsspielräume eröffnet werden. Was sich textseitig als perspektivische Besonderheiten beschreiben lässt, hat beim Leser Einfluss auf die Etablierung eines Textweltmodells und den Deutungsprozess. Mit dem Begriff der Perspektivierung soll die Wirkung textseitiger Mittel der Informationsvergabe auf den Leser beschrieben werden. Probleme beim Erkennen der Erzählperspektive können sich entsprechend auf das Nachvollziehen der narrativen Handlungslogik und damit auf die Kohärenzetablierung auswirken. Wenn ein Leser nicht erkennt, wer spricht und wo dieser Erzähler zu verorten ist, ob er beispielsweise außerhalb des Geschehens steht oder eine Figur der Erzählung repräsentiert, kann dies natürlich auf eigene Defizite zurückzuführen sein. Im Rahmen dieser Arbeit geht es aber um potenzielle Unsicherheiten und Irritationen, die vom Text selbst provoziert werden. Gerade in Kurzgeschichten, in denen der Leser aus den sparsamen Andeutungen eines Erzählers das tatsächlich Erzählte ergänzen muss, ist es oft herausfordernd zu entscheiden, wer sieht und wer spricht und wie zuverlässig, genau oder auch vollständig Informationen einzuschätzen sind.
Um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie Perspektivierung von verschiedenen erfahrenen LeserInnen beim Rezeptionsprozess wahrgenommen, beachtet und verarbeitet wird, geht die Dissertation folgenden Teilfragen nach:
- Inwieweit und wie wird die Wahrnehmung perspektivischer Besonderheiten verbalisiert?
- Lassen sich Strategien identifizieren, die bei der Rezeption spezifisch perspektivierter Texte zu Kohärenzetablierung und literarischem Verstehen beitragen?
Anders als in vorliegenden Arbeiten zum Umgang von Lernenden mit Interkohärenzen (vgl. z. B. Stark 2017) bilden den Ausgangspunkt dieser Arbeit nicht Schülerperspektiven, sondern theoriegeleitete Überlegungen zu Textmerkmalen. Grundlage des Projekts sind entsprechend Analysen perspektivischer Besonderheiten in Kurzgeschichten, die den empirischen Zugriff auf die Leseraktivitäten fundieren. Neben Lernenden finden Lehrkräfte als VermittlerInnen von Literatur Beachtung. Lehrkräfte und die von ihnen ausgewählten SchülerInnen mit unterschiedlichem literarischen Erfahrungsniveau rezipieren innerhalb eines qualitativen Settings Kurzgeschichten der Gegenwart. Um Rezeptionsprozesse rekonstruieren zu können, wird die Lektüre der LeserInnen mit der Methode des Lauten Denkens begleitet. An die Phasen partieller und vollständiger Kurzgeschichtenlektüre schließen sich Interviews an, die gezielte Rückfragen zum Rezeptionsprozess ermöglichen. Die gewonnenen Daten werden inhaltsanalytisch ausgewertet. Aus den Ergebnissen sollen Hinweise für die Konstruktion von Textverstehensaufgaben abgeleitet werden.
Dissertationsprojekt: Christiane Kirmse